Rezension zu »Dry« von Christine Koschmieder

»Wir liegen auf dem Holzpodest, das die ganze Breite unseres schmalen Schlafzimmers einnimmt, und beweinen das Kind, das nicht zu kriegen wir uns entschieden haben, damit ich nicht in sechs Monaten ein durch die Chemokonzentration in deinen Zellen möglicherweise schwerstgeschädigtes Kind zur Welt bringe, das seinen Vater vielleicht nicht mehr kennenlernen wird.«

In ihrem autofiktionalen Roman verarbeitet Christine Koschmieder die Geschichte ihres Lebens. Auf den ersten Blick hat sie so viel erreicht hat: Sie hat den Tod ihrer großen Liebe verarbeitet, drei Kinder großgezogen und eine erfolgreiche Karriere als Selbstständige im Kulturbetrieb aufgebaut. Dennoch begibt sie sich mit Anfang 40 für Monate in eine Suchtklinik, der Alkohol die Droge ihrer Wahl, der ihr durch jede schwere Zeit in ihrem Leben geholfen hat. Ihre Entscheidung löst Verwirrung bei ihren Kindern und Bekannten aus, ihr Problem blieb all die Jahrzehnte unentdeckt. In der Klinik arbeitet sie ihr Leben auf, auf der Suche nach der Ursache, der den Alkohol zu ihrem längsten, engsten, innigsten Partner gemacht hat. Sie spricht über den Krebstod ihres Mannes, den sie am Ende doch nie verwinden konnte. Ihre große Liebe, die sie im Verlauf des Buches immer als Du adressiert. Eine Intimität, die einen nicht unberührt lässt. Über den Verlustschmerz, der immer noch ihr stetiger Begleiter ist. Über die komplizierte und angeknackste Beziehung zu ihren Kindern, über die Fehler, die sie in der Erziehung nie machen wollte und doch gemacht hat. Über ihre folgenden Beziehungen, über die fehlende Nähe, ihre Unfähigkeit, sich wirklich auf andere einzulassen. Dringt tiefer vor in ihre Vergangenheit. Befasst sich mit ihrer Kindheit, der schwierigen Beziehung zu ihrer Mutter, der Rolle, die der Alkohol im Leben ihrer Eltern spielte. Über Wunden, die ihr in frühen Jahren zugefügt worden und sie noch im Erwachsenenalter nachhaltig prägen. Erforscht Ursachen, Zusammenhänge, Konsequenzen. Und schließlich reflektiert sie über ihre Zeit in der Suchtklinik, über ihre Erkenntnisse, die kleinen Erfolge und Rückschritte. Nimmt sich endlich die Zeit, sich auf sich selbst einzulassen. Herauszufinden, wer sie ist, was sie will, was sie fühlt und wünscht. 

»Dry« war ganz anders als ich erwartet hatte. Ich bin ziemlich schnell in diese Geschichte versunken, der Erzählstil hat mich mitgetragen. Ich bin immer wieder beeindruckt, wie es Menschen schaffen, derart reflektiert über ihr eigenes Leben zu berichten. Schonungslos, ehrlich, ohne Auslassung oder Beschönigung. Über dieses Leben, das von Beginn an kein einfaches war. Von Kindheit an wurden ihr Steine in den Weg gelegt, haben ihre Fähigkeit, andere und sich selbst zu lieben, langfristig beeinträchtigt. So viel Schmerz, so viel Verlust, so viel Notwendigkeit zum stark sein. So viele Selbstzweifel, so viel Angst. So wenig Schönes, so viel Hoffnung und so viel Enttäuschung. Und das Glas Rotwein am Abend, das die Rettung war. »Dry« hat mein Verständnis von Alkoholismus grundlegend geändert. In erster Linie denkt man wahrscheinlich immer an die nicht-funktionierenden Alkoholiker*innen, die, die morgens anfangen zu trinken und erst aufhören, wenn die Besinnungslosigkeit eintritt. Die, die nicht mehr lebensfähig sind, deren Leben vom Alkohol bestimmt wird, für alle offensichtlich. Danach denkt man wahrscheinlich an die funktionierenden Alkoholiker*innen, die die ihr Leben augenscheinlich im Griff haben. Doch die Varianz, die Vielfalt ist so viel facettenreicher. Die Personen, die nicht täglich trinken, die, wenn sie trinken, dies nicht bis zum Vollrausch tun. Sondern für die der Alkohol schlicht und einfach als Rettungsanker dient. Die abends ein Glas Wein trinken wie so viele Menschen auf der Welt und die trotzdem ein Suchtproblem haben. Ich habe größten Respekt von Menschen wie der Autorin, die sich Hilfe suchen, wenn sie merken es geht nicht mehr weiter. Die es schaffen, aufzuarbeiten, sich den hässlichen Wahrheiten stellen und versuchen, zu kitten was zu kitten geht. »Dry« ist wirklich keine angenehme Geschichte, sondern geht unter die Haut. »Dry« ist ehrlich und mutig und schmerzvoll. »Dry« ist ein Leben und ist der Wunsch nach Besserung. 




..................................................................

Daten zum Buch
Titel: Dry
Autor*in: Christine Koschmieder
Sprache: Deutsch
Verlag: Kanon
Hardcover | 256 Seiten | ISBN: 978-3-98568-042-9
Anmerkung: gelesen als E-Book via Netgalley

Kommentare