Rezension zu »Die Wut, die bleibt« von Mareike Fallwickl

Helene ist eine verheiratete Mutter dreier Kinder. Beim gemeinsamen Abendessen steht sie ohne ein Wort auf und öffnet die Balkontür. Innerhalb einer Sekunde, einer Entscheidung, einer Bewegung, eines Atemzugs wird die Alltäglichkeit des Moments ausgelöscht, stürzt sich die Mutter vom Balkon und die zurückbleibende Familie in einen Schockzustand. Zurück bleiben ihr Ehemann, ihre beiden gemeinsamen kleinen Söhne und Lola, Helenes Tochter im Teenageralter. Von einem Moment auf den nächsten verlieren sie alles, das sie als Familie zusammengehalten hat: Liebe, Fürsorge, den stillen, unsichtbaren und doch so zentralen Dreh- und Angelpunkt ihrer Leben in Form von Helene. Zurück bleibt auch Sarah, Helenes beste Freundin seit der Kindheit, die aus Liebe, Pflichtgefühl und Verzweiflung beginnt, sich um Helenes Familie zu kümmern. Hat die kinderlose Sarah Helenes Familienleben immer eine Mischung aus Neid und Mitleid entgegenbracht, findet sie sich plötzlich in einer ihr unbekannten, sie überfordernden Situation wider: Für die beiden Jungs wird Sarah schnell zur Ersatzmutter. Sie putzt, sie kocht, sie wäscht, sie kümmert sich. Liest den beiden Jungs vor, spielt mit ihnen, zieht sie an, wäscht sie, schenkt ihnen Zuneigung und Aufmerksamkeit. Schnell kommt Sarah an ihre Grenzen, denn die Art der Fürsorge, die die beiden Jungs einfordern, ist physisch, ist allgegenwärtig und lässt keinen Raum für Abschottung. In ihrer Trauer und Überforderung wird sie immer wieder von Helene heim gesucht und die beiden reden, wie sie es seit Jahren nicht mehr getan haben. Offen und ehrlich und ohne den Versuch, die Dinge zu beschönigen. Helenes Ehemann wiederum nimmt Sarahs Hilfe dankend an, nutzt sie aus, vergräbt sich in Arbeit und Ausreden, verbringt kaum mehr Zeit mit seinen Kindern. Bedenken- und gedankenlos gibt er die Erziehung, das Elternsein, den ganzen familiären Alltag ab an Sarah. Doch nicht nur Sarah, sondern besonders auch Lola kämpft und leidet unter dem Selbstmord ihrer Mutter. Verzweifelt sucht sie nach einer Möglichkeit, ihre Trauer und ihren Schmerz zu bekämpfen. Sie beginnt, sich selbst zu verletzen, zu hungern, sich zurückzuziehen. Nur in ihrer besten Freundin Sunny findet sie Trost. Bis zu einem für beide jungen Frauen einschneidenden, alles verändernden Erlebnis. Von da an ist Wut der Motor, der Lola antreibt. Mit ungeahnten Folgen. 

Diese Rezension fällt mir schwerer und zugleich leichter als die bisherigen. Ich habe oft gelesen, dass dieses Buch wütend macht. Ja und nein. »Die Wut, die bleibt« hat in mir keine Wut geschaffen. Es hat mir vielmehr erlaubt und ermöglicht, Zugang zu der Wut zu finden, die sich in mir befindet. Und da ist so viel Wut. Auf so vieles und so viele. Die Lola am Anfang der Geschichte, die verzweifelte, verlorene Lola, ich hab mich so wiedergefunden in ihr. Mein Schmerz in meiner Jugend war ein anderer, aber das Ergebnis dasselbe. Helene, die im Leben nicht den Ausweg gefunden hat, den der Tod so verlockend anbot. Sarah, die überfordert ist von Pflichtgefühl, Verantwortung und den eigenen unerfüllten Wünschen ihres Lebens. Ich habe Tränen vergossen für Lola und Sunny, für mich und für all die anderen Mädchen und Frauen in dieser Welt, die Narben auf ihren Seelen tragen dank den Männern, der Gesellschaft. »Die Wut, die bleibt« wirft einen ungeschönten, in weiten Teilen leider nicht überspitzten Blick darauf, was es bedeutet, in dieser Welt eine Frau zu sein. Es ist so vieles in einem. Ein Zeugnis von Freundschaft, von Liebe und Familie, von der Beziehung einer Mutter zu ihren Kindern. Es verdeutlicht die Arbeit, die Frauen, Mütter, Ehefrauen leisten und drückt zeitgleich in die offene Wunde der Unsichtbarkeit, der Undankbarkeit, der fehlenden Anerkennung für all jenes. Der Roman ist ein Abbild von sexualisierter Gewalt gegen Frauen und ihren Folgen, vom Druck der Gesellschaft, vom Zwang, einem Ideal zu entsprechen, das nur dem Zweck dient, um klein zu halten. 

Das heißt nicht, dass ich dieses Buch von vorne bis hinten perfekt fand, dass ich nicht an der ein oder anderen Stelle meine Probleme mit der Geschichte hatte, denn die hatte ich. Was Sarah angeht, war ich so oft zwiegespalten: Einerseits litt ich mit ihr, war wütend an ihrer statt, andererseits fühlte ich den Unmut, den Lola ihr gegenüber empfand. Ich wollte, dass Sarah wütend wird, aufsteht, für sich kämpft. Ach, Lola. Du hast dich in mein Herz geschlichen, um es anschließend zu brechen. Ich war dein größter Fan, ich wusste, dass da Stärke in dir steckt. Doch dann kam der Umbruch, kam die Gewalt, kam deine letzte Entscheidung in diesem Buch. Ich verstehe sie nicht, ich unterstütze sie nicht. Ja, wir müssen laut werden, uns entgegen stellen. Aber Gewalt kann und darf nie die Lösung sein. Gewalt führt am Ende nur zu mehr Gewalt und davon gibt es schon viel zu viel auf dieser Welt. Auch möchte ich noch ein kleines Wort zu den Männern in diesem Buch verlieren. Ja, die Handlung, die Charaktere sind überspitzt, es geht hier um die Wirkung, um das Bohren in der Wunde. Dennoch hat es mich ein wenig gestört, dass alle Männer in diesem Buch entweder totale Versager oder Sexualstraftäter waren. Ja, auch ich telefoniere, nehme Voicemails auf oder gebe vor zu telefonieren, wenn ich alleine unterwegs bin. Habe immer ein ungutes, ein furchtbares Gefühl, wenn hinter mir ein Mann läuft und sonst niemand weit und breit zu sehen ist. Habe es einmal versucht, im Wald alleine zu joggen und werde es vielleicht nie wieder tun, zu groß ist das mulmige Gefühl in mir, all die Gedanken daran, was alles passieren könnte. Wie leider und wahrscheinlich so gut wie allen anderen sind auch mir Dinge widerfahren, die mir nicht hätten widerfahren sollen und dürfen. Trotzdem hätte ich mir, was die Männer in diesem Buch angeht, etwas mehr Balance, etwas weniger Plakativität gewünscht. 

Also ja, dieses Buch ist nicht perfekt, aber ich komme zu dem Schluss, dass es das auch gar nicht sein muss und will. Im Zentrum steht das Augenöffnen, das Lautsein, die Wut. Denn dieses Buch ist mutig und wichtig und vor allem eins: wütend. Dieses Buch ist eine Geschichte über drei Frauen. Die eine beendet ihr Leben, die beiden anderen bleiben zurück. Die eine empfindet keinen Schmerz mehr, die beiden anderen müssen einen Weg finden, mit ihm zu leben, ihn zu akzeptieren und loszulassen. Es ist eine Geschichte darüber, was es heißt, in der Gesellschaft, in der wir leben, eine Frau zu sein. Mit allem, was dazu gehört. Ich wünsche mir, dass so viele es lesen, dass es in den Schulen, den Universitäten zum Einsatz kommt. Ich will, dass wir in die offene Wunde drücken, den Schmerz spüren, die Ungerechtigkeit. Dass wir sie teilen, sie zeigen, nicht nur den Frauen, sondern allen. Damit sich etwas ändert. Weil sich etwas ändern muss. Dieses Buch macht nicht wütend. Dieses Buch ist die Wut, die in uns steckt. 




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Daten zum Buch
Titel: Die Wut, die bleibt
Autor*in: Mareike Fallwickl
Sprache: Deutsch
Verlag: Rowohlt
Hardcover | 384 Seiten | ISBN: 978-3-498-00296-1

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