Rezension zu »Die andere Seite des Tages« von Emeli Bergmann

»Glaubst du, Liebe ist eher, etwas zu erfinden oder etwas zu entdecken?, frage ich ihn, und er denkt lange darüber nach.«

Die junge Frau Anna schafft es nicht, den plötzlichen Tod ihres Bruders zu verarbeiten, die Beziehung zu ihren Eltern ist seit langer Zeit angeschlagen, ihrer Mutter macht sie Vorwürfe. Aus einem Wunsch nach Ausbruch und Realitätsflucht heraus reist Anna nach Paris, um in den folgenden Jahren als Au-Pair für verschiedene Familie zu arbeiten. Was einst als Flucht vor Alltag, Trauer und Bewältigung begann, wird zu Annas Lebensinhalt. Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt pausiert Anna ihr eigenes Leben, arbeitet für wenig Geld in fremden Familien, wohnt in kleinen Zimmern und schlechten Wohnungen und zieht die Kinder anderer groß. Über die Jahre geht Anna viele Beziehungen mit Kindern allen Alters ein, begleitet sie manchmal nur für Monate, manchmal für Jahre. Sie baut Verbindungen zu den Eltern auf, vor allem zu den Müttern. Komplizierte, fragile Beziehungen und Verbindungen, ein Spiel aus Nähe und Distanz. Sie wird die Bezugsperson für die Kinder, bleibt gleichzeitig immer eine Außenstehende, nur eine Angestellte, dringt zwangsläufig in die Privatleben der Eltern ein, bei denen sie angestellt ist; mal mehr, mal weniger. Wird Vertrauensperson, eine Schulter zum Ausweinen, erlebt Geburten, Geburtstage, Streits und Scheidungen mit, immer in zweiter Reihe. Jeder Familienwechsel hinterlässt Spuren, feine Risse auf Annas Seele. Ihr Leben pausiert, ihr Leben findet im Schatten der Kinder statt, die sie groß zieht, in ihr Herz schließt und wieder verlassen muss. Einst träumte sie von ihrer eigenen Familie, einer tiefgehenden Liebe zu einem anderen Menschen, einem gemeinsamen Kind, Träumen und Hoffnungen und Leben. Doch langsam aber sicher verliert sie die Fähigkeit, in ihrem eigenen Privatleben langfristige, tiefgehende Beziehungen einzugehen. Und nach wie vor schlummert der Schmerz um den Verlust ihres geliebten Bruders, ihres Seelenverwandten unter der Oberfläche, wartend darauf, auszubrechen, noch immer eine offene Wunde, noch immer nicht akzeptiert, noch immer fassungslos. 

»Die andere Seite des Tages« war für mich ein ganz besonderes Leseerlebnis. In diesem dünnen Buch steckt so viel. Feingefühl, Schmerz, Melancholie. Der Roman ist ein ganz leises Werk, das einen, wenn man sich auf die Geschichte einlässt, die es einem fast schüchtern zuflüstern möchte, tief berührt. Es erzählt die Geschichte einer ganzen Arbeitswelt. Frauen, die ihr eigenes Leben hintenanstellen, um sich um die Kinder, Häuser, Leben anderer zu kümmern. Erzählt davon, wie wichtig diese Hingabe ist für die Leben der Kinder, für die sie die Verantwortung tragen. Erzählt davon, wie gering der Dank, die Wertschätzung, der Lohn dieser immensen, verantwortungsvollen, emotional aufreibenden und wichtigen Arbeit ist. Erzählt von der Unsichtbarkeit der Care-Arbeiter*innen, von den physischen und vor allem auch psychischen Belastungen und Nachwirkungen, die dieses Leben mit sich bringt. Und erzählt zugleich die Geschichte einer jungen Frau, die den Halt im Leben verloren hat. Die unfähig ist, sich mit ihrem Verlust auseinanderzusetzen, zu tief der Schmerz, zu einschneidend die Wunde. Die sich flüchtet, die wegrennt, bis Wegrennen ihr Leben wird. Die ihr Leben zwar nicht beendet, aber doch so sehr in den Hintergrund geraten lässt, dass man meinen könnte, sie selbst ist mit ihrem Bruder gestorben, ihr Leben nicht mehr lebenswert ohne ihn. »Die andere Seite des Tages« ist leise, ist berührend, ist schön auf eine Art, wie es vielleicht nur dieses Buch sein kann. 




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Daten zum Buch
Titel: Die andere Seite des Tages
Autor*in: Emeli Bergmann
Sprache: Deutsch
Aus dem Dänischen übersetzt von Ursel Allenstein
Verlag: Ecco
Hardcover | 192 Seiten | ISBN: 978-3-7530-0068-8

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