Rezension zu »Das Porzellanzimmer« von Sunjeev Sahota

Im Jahr 1929 werden im ländlichen Punjab in Indien drei junge Frauen, alle noch Teenagerinnen, in einer traditionellen Zeremonie mit drei Brüdern verheiratet. Eines der Mädchen ist Mehar und wie die anderen beiden Mädchen weiß auch sie nicht, welcher der Brüder ihr Mann ist. Tagsüber arbeiten die Mädchen bis zum Umfallen, unter den strengen Augen der Schwiegermutter Mai und eingesperrt im Porzellanzimmer, dem Zimmer, in dem Mai ihre Aussteuer lagert. Nachts werden sie abwechselnd von Mai aufgefordert, einen separaten Raum aufzusuchen. Dort, in vollkommener Dunkelheit, müssen sie ihre Ehemänner empfangen und ihre Körper zur Verfügung stellen, schließlich erhofft sich Mai bald ihr erstes männliches Enkelkind. Noch immer wissen die Mädchen nicht, welcher der drei Männer der ihre ist. Dann passiert das Unerwartete: Mehar verliebt sich in einen der Brüder, spürt Leidenschaft und Sehnsucht. Doch die Liebe zwischen Mehar und dem Bruder ist gefährlich und bringt nicht nur Mehars Leben in Gefahr. 

70 Jahre später flieht Mehars Urenkel, inzwischen in zweiter Generation in England lebend, vor seinen Problemen zu seinem Onkel nach Indien. Fernab jeder Versuchung, versucht er, seine Heroinsucht zu bekämpfen, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen, denn schon bald soll er in England sein Studium beginnen. Zuflucht findet er auf der schon lange verlassenen Familienfarm. Dort findet er das verbarrikadierte und mit Gitterstäben ausgestattete Porzellanzimmer. Durch Erzählungen von Dorfbewohner*innen begibt er sich nicht nur auf die Suche nach sich selbst, sondern auch auf eine Reise durch Mehars Leben und den Abgründen seiner eigenen Familiengeschichte.

»Das Porzellanzimmer«, das lose auf der Familiengeschichte des Autors beruht, ging mir wirklich unter die Haut. Die Vorstellung, wie noch nicht mal vor einem Jahrhundert viel zu junge Mädchen zwangsverheiratet wurden, herausgerissen wurden aus ihrem Leben, ihre Familien nie wieder sehen durften, zum Sex und zur Arbeit gezwungen wurden, tyrannisiert und unterdrückt, bestraft und gedemütigt wurden, keine Rechte, keine Stimme, noch nicht mal ein Gesicht hatten, denn das musste unter einem Schleier versteckt sein, kein Anrecht darauf hatten, zu wissen, an wen sie verheiratet werden – in einem Wort: furchtbar. Und grausam. Durch die Kapitel, die aus Mehars Sicht geschrieben sind, gewinnt die Geschichte zusätzlich an Tiefgang: Man spürt ihre Ängste, ihre Verzweiflung. Aber auch den Wunsch nach einem anderen, besseren Leben. Man begleitet sie dabei, wie sie unter eigentlich unmöglichen Umständen ihre Lust entdeckt, Liebe entwickelt und empfindet. Wie sie die Kraft findet, an den kleinsten ihrer Wünsche zu glauben und dafür alles riskiert. Die Perspektiven der Brüder, die in einigen Kapiteln eingenommen werden, schärfen das Bild der Lebensumstände nicht nur von Mehar, sondern vom Indien in der Zeit in der Region, kontextualisieren, machen es realer, furchtbarer. Auch die Einblicke in das Leben, die Suche, den Kampf von Mehars Urenkel war fesselnd – dieser Kulturclash aus dem England der 2000er Jahre und dem immer noch ländlichen, abgeschnittenen Punjab hätte nicht größer sein können. Die Werte und Traditionen der Gegend, die noch immer rückschrittig, frauenfeindlich sind. Ja, »Das Porzellanzimmer« war viel. Und gleichzeitig so schön und angenehm zu lesen!

 



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Daten zum Buch
Titel: Das Porzellanzimmer
Autor*in: Sunjeev Sahota
Sprache: Deutsch
Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Verlag: Hanser Blau
Hardcover | 240 Seiten | ISBN: 978-3-446-27388-7
Anmerkung: gelesen als E-Book via Netgalley

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