Rezension zu »Alles ist noch zu wenig« von Katja Schönherr

»Die Menschen bilden sich so viel ein auf ihr Sprechenkönnen, ihre Vorstellungskraft. Auf diese Fähigkeiten, die sich angeblich wertvoller machen als jedes Tier. Und trotzdem bleibt ihnen ein wirkliches gegenseitiges Verständnis versagt.«

Inge ist 84 Jahre alt und lebt alleine in einem Haus in Munßig, einem abgelegenen Örtchen in der ostdeutschen Provinz. Los ist in Munßig schon lange nichts mehr: Die Geschäfte haben seit Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten geschlossen und auch die Schule, auf die einst Inge und nach ihr ihre beiden Söhne Carsten und Jens gingen, ist verriegelt, denn Kinder und junge Erwachsene gibt's kaum noch im Ort. Der Großteil der Bevölkerung besteht aus Menschen wie Inge, die nie weggezogen sind vom einzigen Ort, den sie je kannten. Jetzt ist Inge in ihrem Haus gestürzt, ist in der Nacht die steile Treppe herunter gefallen. Stunden später hat sie Ulrike, die Nachbarin und frühere On-Off-Freundin von Carsten, durch Zufall gefunden und einen Krankenwagen gerufen. Inge hat sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen, was es unmöglich für sie macht, wieder alleine nach Hause zu gehen und den Alltag zu bewerkstelligen. Ihr Mann ist schon lange tot, Jens hat den Kontakt zur Familie abgebrochen und lebt in den USA. Bleibt also nur ihr ältester Sohn Carsten, der im nicht weit entfernten Berlin lebt. Der wiederum kann sich besseres vorstellen, als sich wochenlang in Munßig um seine kranke Mutter zu kümmern, denn auch die beiden haben nicht das beste Verhältnis und Carsten liebt nun mal seine Freiheit. Am Ende bleibt ihm keine Wahl und so verbringen er und seine 15-jährige Tochter Lissa, die normalerweise bei seiner Ex-Frau lebt, einen Teil der Sommerferien in Munßig. Drei Generationen, drei Persönlichkeiten, Konflikte vorprogrammiert. Jede*r eckt mit jeder*jedem an: Die umweltbewusste Feministin Lissa verurteilt Carstens konsumorientierten, frauenverschleißenden, bindungsresistenten Lebensstil mindestens genauso sehr wie seine Tätigkeit in der Marketingabteilung für einen Plastikbehälter-Hersteller. Carsten wiederum empfindet seine Tochter als frühreif und hysterisch, beharrt auf seinen Ansichten und wünschte, er könnte mal wieder nach »Brüssel« verschwinden. Bei Inge und Lissa kollidieren Welten: Die selbstbewusste Lissa, die sich Umwelt und Tieren zuliebe vegan ernährt, widerspricht Inges traditionellen, heteronormativen Ansichten und Werten. Und dann sind da natürlich noch die Tücken der Mutter-Sohn-Beziehung: Inge, die erwartet, dass sich Carsten um sie kümmert und am besten sofort zurück nach Munßig zieht, weil Kinder sich nun mal um ihre Eltern zu kümmern haben, ist ein Dorn im Auge Carstens, der seine Mutter am liebsten heute als morgen in ein Altersheim verfrachten möchte, um zu seinem gewohnten Lebensstil zurückzukehren. 

Im Laufe ihres Zusammenlebens müssen sich Lissa, Carsten und Inge neu oder vielleicht auch zum ersten Mal richtig kennen lernen, denn schnell wird klar, dass es so viel mehr gibt als Schwarz und Weiß. Sie müssen lernen, dass Schuldzuweisungen keine Lösung sind, sondern die Dinge nur verschlimmern, wenn man nicht bereit ist, aufeinander zu zu gehen. Sie müssen lernen, dass man auch mal zuhören, die eigene Schuld anerkennen, Fehler eingestehen, Ansichten revidieren muss. Sie müssen verstehen, dass Worte und Handlungen Konsequenzen haben, Wunden zufügen können und dass manche Wunden so tief gehen, dass keine Zeit der Welt sie wieder heilen kann. Manche Brücken bleiben abgerissen. Für manches ist es einfach schon zu spät, die Zeit lässt sich nicht zurück drehen, Gesagtes lässt sich nicht Ungesagt machen. Deswegen ist es umso wichtiger, das zu reparieren, was man reparieren kann. Dass man dazu lernt. So lernt Lissa, dass man seine Kämpfe wählen muss, Versprechen Folgen haben und dass Erwachsen werden und Erwachsen sein so viel schwieriger ist, als es den Anschein hat. Carsten muss sich fragen, ob er seiner Mutter weiterhin an allem die Schuld geben will, was falsch läuft in seinem Leben und das als Generalentschuldigung nutzt, um festzuhalten an seinem überholten patriarchalen Macho-Getue und seinem Egoismus. Inge schließlich muss sich auseinandersetzen mit ihrer Vergangenheit, muss festgefahrene Ansichten hinterfragen und einsehen, dass sie nicht die perfekte Mutter war, die sie gern gewesen wäre. Dass sie Fehler gemacht hat, die dazu führen, dass sie jetzt da ist, wo sie ist. Gleichzeitig stützen sich alle auf Ulrike, keine Protagonistin, aber doch meine Heldin der Geschichte: Ulrike ist eine alleinerziehende Mutter zweier Töchter, die sich seit Jahren um ihre schwerstpflegebedürftige Mutter kümmert und ihr gesamtes eigenes Leben hinten an stellt. Die eingenommen ist von den Verpflichtungen und Erwartungen, die andere an sie stellen. Und die trotzdem noch die Kraft findet, nach Inge zu sehen, Carstens Seelsorge zu sein und Lissa eine Bezugsperson, wie diese sich ihre eigene Mutter wünscht. 

»Alles ist noch zu wenig« erzählt leise, aber eindringlich, feinfühlig und berührend eine Geschichte darüber, was eine Familie ausmacht, über Verantwortung und Erwartungen, über die Herausforderungen des Lebens. Drei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und durch die Liebe – ob sie diese nun wahrhaben wollen oder nicht – ein Teil des Lebens der anderen sind. Aus der wechselnden Sicht von Lissa, Carsten und Inge taucht man ein in die Familiendynamik, die Erwartungen, Gedanken und Enttäuschungen der Einzelpersonen ergeben in der Kombination mit denen der anderen fast ein Puzzle, Teilchen für Teilchen setzt sich das fertige Bild zusammen, das eindrucksvoll zeigt, dass Wahrnehmung immer subjektiv und die Wahrheit irgendwo in der Mitte verborgen liegt. Der Roman stellt die entscheidende Frage danach, was man von jemand anderem verlangen darf, nur weil er zur angeborenen oder selbst erwählten Familie gehört und ob Alles noch zu wenig, oder doch viel zu viel ist. Er verdeutlicht, dass Familie kein Anrecht ist, sondern ein Privileg. Dass man nicht verlangen kann, ohne zu geben. Dass Menschen sich ändern können, aber nicht müssen. Dass es Verständnis braucht und Veränderung. 

Ich bin so froh, dass ich diesen Roman durch Zufall gefunden und bekommen habe. Er hat mir so viel gegeben, so viel gezeigt, so viel gelehrt. Es passiert so gut wie nie, dass ich Stellen in einem Buch markiere, weil ich weiß, dass ich irgendwann zu ihren zurückkehren und Trost oder Rat oder Bestätigung in ihnen finden werde. »Alles ist noch zu wenig« ist so ein Roman für mich, erst der zweite dieses Jahr. Ich weiß, dass ich wieder zu ihm zurückkehren werde. Besonders Lissa ist mir sehr ans Herz gewachsen und hat mir ein Zitat nach dem anderen geschenkt, weil ihre Werte meinen entsprechen und ich mir gewünscht hätte, dass ich ihren Mut, ihr Selbstvertrauen und ihre Stärke gehabt hätte, als ich 15 war. Ein absolutes Herzensbuch für mich, für das ich mir wünsche, dass ihr es auch für euch entdeckt!




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Daten zum Buch
Titel: Alles ist noch zu wenig
Autor*in: Katja Schönherr
Sprache: Deutsch
Verlag: Arche
Hardcover |  320 Seiten | ISBN: 978-3-7160-2801-8

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