Rezension zu »Was wir sind« von Anna Hope

»Am liebsten würden sie die Zeit anhalten, hier und jetzt, in diesem Park und diesem herrlichen Nachmittagslicht. Sie wünschten, die Mieten würden bezahlbar bleiben. Sie möchten rauchen und Wein trinken, als wären sie jung und als machte es nichts aus. Am liebsten würden sie sich für immer in diesem wunderschönen, warmen Nachmittag im Mai vergraben. Sie bewohnen das schönste Haus neben dem schönsten Park im schönsten Teil der schönsten Stadt des Planeten. Ihr Leben liegt vor ihnen, größtenteils. Sie haben Fehler gemacht, aber keiner davon war wirklich schlimm. Sie sind vielleicht nicht mehr jung, aber alt fühlen sie sich nicht. Das Leben ist immer noch formbar und voller Potenzial. Noch sind die unerkundeten Straßen nicht versperrt. Sie haben noch Zeit zu werden, wer sie später einmal sein wollen.«

London Fields, 2004. Die drei Freundinnen Hannah, Lissa und Cate sind Ende 20 und leben zusammen in einem alten Herrenhaus. Cate und Hannah sind Freundinnen seit ihrer Kindheit, Lissa und Hannah haben sich am College kennengelernt. Ihre Leben und ihre jeweilige Zukunft scheinen perfekt: Sie sind zufrieden, haben Träume, deren Erfüllung in Reichweite ist, sind unbeschwert, haben ihr ganzes Leben noch vor sich, leben in den Tag hinein, haben Zeit und Freiheit und Freude und sich. 

2010, sechs Jahre später. Hannah, Lissa und Cate sind nun in der Mitte ihrer Dreißiger, längst wohnen sie nicht mehr zusammen in dem alten Haus, das Leben hat sie eingeholt, ihre Lebenswege könnten unterschiedlicher nicht sein. Hannah hat auf den ersten Blick alles, was man sich wünschen könnte: eine erfolgreiche und erfüllende Karriere, eine schöne Wohnung in London und in Nathan einen liebevollen Ehemann, der sie liebt wie am ersten Tag. Doch hinter der perfekten Fassade liegt Schmerz begraben. Hannah wünscht sich nichts sehnlicher als Mutter zu werden, doch nach Jahren und mehreren Versuchen von künstlicher Befruchtung siegt langsam die Verzweiflung, mit Auswirkungen auf die Beziehung zwischen ihr und Nathan. Cate wiederum hat einen kleinen Sohn und lebt seit seiner Geburt in Canterbury, in der Nähe der Familie ihres Mannes. Sie kämpft mit den Schattenseiten der Mutterschaft - chronischer Schlafmangel, ständige Angst und Sorgen - und hat das Gefühl, sich mehr und mehr von der Person zu entfernen, die sie immer sein wollte und vor kurzem noch war. Lissa ist im Vergleich zu Hannah und Cate nie ganz erwachsen geworden: Nach einer gescheiterten Beziehung lebt sie noch immer alleine in dem alten Haus und träumt nach wie vor von ihrem großen Durchbruch als Schauspielerin, der zum ersten Mal seit langer Zeit wieder fast greifbar zu sein scheint. Noch immer sind die drei Freundinnen, wenn auch inzwischen auf eine andere Weise. Sie sehen sich seltener, haben sich auseinander gelebt, jede hat ihre eigenen Kämpfe auszutragen. Und doch sind sie für einander da, wenn es darauf ankommt. 

Aus der wechselnden Sicht der Drei und immer wieder gespickt mit Rückblenden in die verschiedenen Stufen ihrer Freundschaft seit ihrem Kennenlernen begleitet Was wir sind die Leben von Hannah, Cate und Lissa. Ihre Entscheidungen, ihre Siege, ihre Niederlagen. Die Momente größter Freude und größter Verzweiflung. Das Chaos, die Schönheit, die Hässlichkeit des Lebens. Die Diskrepanz zwischen Träumen und Realität. Die Chancen und die verpassten Gelegenheiten. Glück und Pech und alles dazwischen. Dieses Buch hat mich tief berührt, die Charaktere und ihre Geschichten wirken derart echt, verletzlich, intim, dass ich nicht anders konnte, als mitzufühlen. Was wir sind erzählt nicht nur die Geschichte dreier Frauen, sondern ist so viel mehr. Es handelt von Mutterschaft, ihren Höhepunkten und Tiefpunkten, von Kinderwunsch und Kinderlosigkeit, von Überforderung und Zweifeln und grenzenloser Liebe. Es geht nicht nur um die drei Frauen, sondern auch um deren Mütter, den Beziehungen zu ihnen und deren Einflüssen auf ihr eigenes Leben, ihre Entscheidungen. Es geht um Liebe, romantische, freundschaftliche, familiäre. Um Schmerz, Neid, Missgunst, Trauer. Es geht um das Leben und um die Frage danach, was und wer wir sind. 

Selten habe ich mich auf so viele verschiedene Arten und Facetten mit den Charakteren eines Buchs identifizieren können. Ich bin mir sicher, dass ich dieses Buch in den nächsten Jahren noch einmal lesen werden, wenn ich mich verloren fühle. Weil dieser Roman Hoffnung schenkt und Bestätigung gibt. Was wir sind ist ein leises, feinfühliges »Es ist okay. Du bist okay.« Es ist die Erinnerung, dass nicht immer alles in unserer Macht liegt, aber dass unsere Entscheidungen und die Menschen, mit denen wir uns umgeben, die Art und Weise, wie wir sie behandeln, nichtsdestotrotz oder vielleicht genau deswegen von größter Bedeutung sind. Und dass es okay ist, Fehler zu machen, dazu zu lernen, loszulassen, festzuhalten, keinen Plan zu haben, einfach zu leben. 




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Daten zum Buch
Titel: Was wir sind
Autor*in: Anna Hope
Sprache: Deutsch
Aus dem Englischen übersetzt von Eva Bonné
Verlag: Hanser
Hardcover | 368 Seiten | ISBN: 978-3-446-26563-9

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