Rezension zu »Snowflake« von Louise Nealon

Eine Milchfarm, abgeschieden gelegen im ländlichen Irland. Hier wächst Debbie White auf, hat die letzten und ersten 18 Jahre ihres Lebens dort verbracht, umgeben nur von Kühen und Kälbern, ihrem Onkel Billy, ihrer Mutter Maeve sowie den Angestellten auf der Farm und den wenigen Menschen im nahe gelegenen Dorf. Auf ihre Weise ist Debbies Familie einzigartig, man möchte sagen, speziell: Billy lebt nicht im Farmhaus, sondern hausiert in einem Wohnwagen auf dem Grundstück und trinkt mehr Alkohol, als für ihn oder sonst jemanden gut wäre. Maeve wiederum ist eine psychisch kranke Frau, die den Großteil ihrer Zeit im Schlafzimmer verbringt, ihre Träume aufzeichnet und deutet, in allem Zeichen und Hinweise sieht und Debbie von klein an mit ihrer Wahrnehmung der Wirklichkeit beeinflusst hat. So hatte Debbie immer wieder Angst davor, zu schlafen, denn ein Teil von ihr glaubt daran, dass sie gelegentlich im Schlaf in die Träume und Wahrnehmungen anderer schlüpft. Jetzt, mit 18, ändert sich Debbies Leben grundlegend, denn sie beginnt in Dublin mit dem Anglistik-Studium. Gleichzeitig bleibt sie auf der Farm wohnen, pendelt täglich, und zwei Welten kollidieren. In Dublin fühlt sich Debbie verloren, findet schwer Anschluss, kann ihre bäuerliche Herkunft nicht verbergen, alles in allem sind ihre sozialen und kommunikativen Fähigkeiten einfach nicht die besten. Auch das Studium an sich hat sich Debbie leichter vorgestellt, die Noten fallen schlechter aus als noch in der Schule, die Inhalte versteht sie meist nicht so ganz. Doch in Xanthe findet sie eine unerwartete Freundin, die erste, die Debbie je hatte. Während Xanthe das Leben als Studentin in vollen Zügen und von ihren Eltern finanziert genießt, muss Debbie jeden Penny dreimal umdrehen und hat Schuldgefühle, das Studium eher schlecht als recht zu meistern, während Billy irgendwie versucht, ihr zumindest die Studiengebühren weiter bezahlen zu können. Auch Zuhause auf der Farm laufen die Dinge allmählich aus dem Ruder und Debbie fängt an, sich zu fragen, in welche Welt sie gehört, wo sie sich doch in beiden fehl am Platz fühlt. 

Debbies Geschichte war herzerwärmend. Nicht im klassisch positiven Sinne, denn Debbies Leben ist wirklich kein Stoff für ein Wohlfühl-Buch. Aber es ist irgendwie echt, irisch, lebensnah. Debbie kämpft mit dem Gefühl der Zugehörigkeit, Verantwortung und Anpassung – sowohl Zuhause als auch in der Uni. Wer ist sie? Wer darf und kann sie sein? Welche Ansprüche darf sie haben? Debbie trinkt zu viel, ist egoistisch, ist unsicher, experimentiert und verliert die Kontrolle. Glaubt, kein Recht auf Hilfe zu haben, weil es ihr ja nicht wirklich schlecht geht. Versteht nicht, wie jemand, der auf den ersten Blick ein derart perfektes Leben wie Xanthe führt, psychisch krank sein kann und auch noch die Kraft hat, dies zuzugeben. Ist überfordert mit ihrer Mutter und ihrem Onkel, die beide ihre eigenen Probleme zu bewältigen haben und Debbie unweigerlich mit hinein und nach unten ziehen. Snowflake ist die Geschichte eines jungen Mädchens auf der Suche nach allem. Es ist die Geschichte von Fehlern und Chancen, von psychischer Krankheit und dem Versuch, gesund oder zumindest besser zu werden. Es ist Akzeptanz und Verweigerung. Es ist Tod und Abgrund und Neuanfang. Es ist die Erinnerung daran, dass wir alle unser Päckchen zu tragen haben, unsere Fehler und Macken und kleinen und größeren Probleme haben – die Kunst ist es, jemanden zu finden, dessen Ecken und Kanten zu den eigenen passen. Jemanden zu finden, der akzeptiert anstatt vorzuwerfen. Egal, ob in der Freundschaft, der Liebe oder der Familie. 




..................................................................

Daten zum Buch
Titel: Snowflake
Autor*in: Louise Nealon
Sprache: Deutsch
Aus dem Englischen übersetzt von Anna-Nina Kroll
Verlag: Mare
Hardcover | 352 Seiten | ISBN: 978-3-86648-660-7
Anmerkung: gelesen als E-Book via Netgalley

Kommentare