Rezension zu »Galatea« von Madeline Miller

In diesem 80-seitigen, kurzen Roman erzählt die Autorin Madeline Miller den Pygmalion-Mythos aus Ovids Metamorphosen neu. Neu meint hier allerdings keine Neuerzählung oder Neuinterpretation der Geschichte, sondern die Autorin schafft eine neue Weitererzählung der eigentlichen Geschichte. Dem ursprünglichen Pygmalion-Mythos zufolge war der Bildhauer Pygmalion angewidert von der sexuellen Freizügigkeit der Frauen auf der griechischen Insel, die als Strafe für die Weigerung von Opfergaben an die Götter und Göttinnen nicht anders können, als sich zu prostituieren. Also arbeitet Pygmalion an der Marmorstatue einer in seinen Augen perfekten Frau und verliebt sich in sein Werk. Er beginnt, ihr Kleider und Schmuck zu kaufen und anzulegen, bettet sie sogar in sein Bett. Es kommt soweit, dass er die Göttin Venus anfleht, ihm eine Frau wie seine Statue zu finden. Venus versteht seine versteckte Botschaft und als Pygmalion nach Hause zurück kehrt und seine Statue berührt, erwacht diese nach und nach zum Leben. So rein und unschuldig und schön wie in seinen kühnsten Träumen blickt die auferweckte Frau liegend hoch zu ihrem über ihr gebeugten Schöpfer. Hier endet der ursprüngliche Mythos. Die Frau bleibt namenlos. Man erfährt nur, dass sie Pygmalion später ein Kind schenkt. In wenigen Worten spiegelt der Mythos die Misogynie, das Patriarchat, den Male Gaze in seiner ganzen Wirkungskraft wieder. 

Die Autorin wiederum fängt mit ihrer Geschichte an, wo der Mythos endet. Galatea – hier bekommt die Frau einen Namen, während der Bildhauer namenlos bleibt – befindet sich in einer Art Sanatorium hoch oben auf einer Klippe. Sie wird rund um die Uhr von einem Arzt und Krankenschwestern bewacht. Regelmäßig bringt man ihr einen Tee, der ihre Zunge lähmt und sie schläfrig macht. Dazwischen empfängt sie regelmäßig Besuch von ihrem Mann und Schöpfer. Besuche, die immer nach dem gleichen Muster ablaufen: Sie legt sich hin, gibt vor Stein zu sein. Er betet zur Göttin, seine perfekte steinerne Frau möge zum Leben erwachen. Sie erwacht, er hat Sex mit ihr. Inzwischen ist die Tochter der beiden 10 Jahre alt und zu einem willensstarken und gebildeten Mädchen herangewachsen. Galatea hofft, wenn sie sich ihrem Mann nur genug fügt, darf sie wieder nach Hause und zu ihrer Tochter zurück. Denn ihr Gefängnis ist die Strafe dafür, dass sie eben keine perfekte Hülle aus Marmor mehr ist. Denn Galatea redet, hat eine eigene Meinung, ermöglicht ihrer Tochter Zugang zu Bildung, lässt sich selbst nicht alles gefallen, begehrt auf gegen ihren Mann und auch ihr Körper weist durch die Schwangerschaft Veränderungen auf, die sie in den Augen ihres Mannes schändlich, ja fast wie die anderen Frauen wirken lassen. Als Galatea die Wünsche und die sexuellen Übergriffe ihres Mannes nicht mehr ertragen kann, nimmt sie ihr Schicksal selbst in die Hand. 

Vom ersten Moment an habe ich mit und für Galatea und ihre Tochter gehofft. Ich finde die Idee wundervoll, einen alten Mythos voller Feindlichkeit umzudrehen, die Frau in den Mittelpunkt zu stellen, ihr die Möglichkeit zu geben, selbst tätig zu werden. Galatea wehrt sich. Gegen die Bevormundung, gegen das Absprechen ihrer geistigen und körperlichen Gesundheit. Gegen den abstruses und vollkommen problematischen Gedanken ihres Mannes, man könne ein anderes Wesen so formen wie Stein. Sie entschuldigt sich nicht dafür, am Leben zu sein. Sie äußert ihre Meinung, ihre Geduld und das, was sie verkraften kann, hat Grenzen. Sie entschuldigt sich nicht dafür, dass sie eine liebende Mutter ist und den sexuellen Wünschen und Vorstellungen ihres Mannes nicht mehr entspricht und nicht mehr entsprechen möchte. Sie wird – gegen den Willen ihres Mannes und gegen den Willen der Gesellschaft, in der sie lebt – von einer passiven Statue zu einer aktiven Handelnden. Sie übernimmt die Kontrolle für ihr Leben und für das ihrer Tochter. Egal um welchen Preis. Hätte ich einen Wunsch an das Buch, dann diesen: Sei länger! Ja, in der Kürze der Seiten wurde mit wenigen Worten alles gesagt, aber dennoch hätte ich mich gerne noch tiefer in die Geschichte fallen lassen. Und für 80 Seiten inklusive Vor- und Nachwort hat das Buch auch einen stolzen Preis. Trotzdem eine schöne, berührende, wichtige Geschichte. Es wird Zeit, dass derartige ungesunde Weltbilder wie das, das dem Pygmalion-Mythos innewohnt, reflektiert, auseinander genommen, neu interpretiert werden und den Frauen der Geschichte die Aufmerksamkeit bei kommt, die sie verdienen. 




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Daten zum Buch
Titel: Galatea
Autor*in: Madeline Miller
Sprache: Deutsch
Aus dem Englischen übersetzt von Ursula C. Sturm
Verlag: Eisele
Hardcover | 80 Seiten | ISBN: 978-3-96161-141-6
Anmerkung: gelesen als E-Book via Netgalley

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