Rezension zu »Fünf Leben« von Jenny Tinghui Zhang

Die junge Chinesin Daiyu ist in den 1880er Jahren in China in behüteten Verhältnissen aufgewachsen: Liebende und sorgende Eltern, die Großmutter mit im Haus. Der Tradition nach erwartete Daiyu das traditionelle Füße Brechen in jungen Jahren, um als Ehefrau oder Konkubine an einen reichen Mann verkauft zu werden. Doch Daiyus Eltern machen sich nichts aus dieser Tradition, verlassen die Stadt Zhifu und ziehen aufs Land. Im Gegensatz zu den Mädchen in ihrer Umgebung, die mit gebrochenen Füßen im Sand sitzend spielen, erkundet Daiyu ihr Umfeld; liebt es, im Meer zu schwimmen. Ihr behütetes Leben endet abrupt: Über Nacht verschwinden ihre Eltern spurlos, Regierungsbeamte suchen nach ihnen. Als ihre Eltern verhaftet werden, verbietet Daiyus Großmutter ihr aus Sorge, über ihre Eltern zu reden, schneidet ihr die Haare ab, steckt sie in Jungenkleidung und schickt sie in dunkler Nacht nach Zhifu. Plötzlich ist Daiyu ein Straßenjunge, verzweifelt auf der Suche nach Essen, Arbeit, einem Dach über dem Kopf. Durch Zufall findet sie Zuflucht in einer Kalligrafie-Schule und entdeckt ihre Liebe zur Kalligrafie. Sie gerät an die Falschen, wird entführt, eingesperrt. Ein Jahr lang wird ihr Englisch eingetrichtert. Wieder als Junge verkleidet wird sie in einer weiteren Nacht und Nebel-Aktion in die USA verschifft. Ihr neues Leben in San Francisco besteht aus einer neuen Art von Leid: In einem chinesischen Bordell wird sie zwangsprostituiert. Bis sie es schafft zu fliehen. Tief in den Bergen von Idaho gibt sich Daiyu aufs Neue als Junge aus. Alles könnte gut sein oder doch zumindest besser werden, doch eine Welle des anti-chinesischen Rassismus wandert durch die USA, gewinnt an Größe und erreicht schließlich Daiyu in nie erahnten Ausmaßen. Schafft es Daiyu noch einmal, ihre Stärke zu sammeln und vielleicht zum ersten Mal seit ihrer frühesten Kindheit wieder sie selbst zu sein, wer auch immer das sein mag, nachdem sie so viele Personen war?

Dieser historische Roman, der zwar eine fiktive Lebensgeschichte erzählt, aber dennoch auf realen Begebenheiten fußt, hat mich zutiefst bewegt. Ich bin tief eingetaucht in Daiyus Welt und Leben, habe sie begleitet auf ihrem Weg von ihrem sicheren und beschützten Zuhause hin ins Unglück, das so viele Formen angenommen hat wie Daiyu Leben. Immer wieder musste sie ein Junge sein, sich selbst verstecken, zum Schutz. Mädchen sollte sie nur im Bordell in San Francisco sein, doch auch hier jemand anders. Eine Hülle, gemacht und aufbereitet für den Blick der weißen Männer. Und trotz all dem Leid, das ihr zugesetzt wurde, hat sie nie ganz aufgegeben. Zwar mit und gegen sich gekämpft, Teile von sich verloren oder abgelehnt, aber sich nie ganz verloren. Hat an ihrer Stärke festgehalten, die ihr mehr als einmal das Leben gerettet hat. Und neben dieser gewaltigen Geschichte über das Leben als Chinesin Ende des 19. Jahrhunderts sowohl in China als auch in den USA ist Fünf Leben noch so viel mehr: Der Bericht eines in Vergessenheit geratenen Teils der amerikanischen Geschichte. Der Chinese Exclusion Act, der 1882 in Kraft getreten ist, entstanden aus dem existierenden Rassismus gegen die chinesische Bevölkerung, der dadurch nur noch mehr angefeuert wurde, den Rassist*innen als Grundlage und Rechtfertigung für ihren Hass, Diskriminierung und Lynchmorde diente. Auch diese Geschichte erlebt man durch Daiyus Augen. Man spürt ihre Angst, zum ersten Mal nicht nur wegen ihres Frauseins, sondern auch noch wegen ihrer Abstammung in Gefahr zu sein. Kein Wunder, dass sie sich für ein abgeschiedenes Leben als Junge mit kaum Kontakten, geschweige denn Freund*innen zu führen. Aber ein Mensch braucht am Ende andere Menschen. Und als diese wegen ihrer Herkunft ebenso wie Daiyu in Gefahr geraten, sieht Daiyu nur eine Möglichkeit: Ihre Stimme nach all den Jahren wieder zu finden. So viele Leben hat Daiyu geführt. So viele Persönlichkeiten angenommen und aufgezwängt bekommen. So viele Menschen kennengelernt und Leben anderer beeinflusst. Doch wer ist sie am Ende? 

Wirklich, lest dieses Buch. Ja, es ist kein »gute Laune«-Buch, aber es ist wirklich wichtig. Nicht nur, wegen der Einblicke in das Leben von Chinesinnen im 19. Jahrhundert, sondern auch weil dieses Buch einen Blick wirft auf ein kaum bekanntes Kapitel der amerikanischen Geschichte. Ich habe mein American Studies-Studium Revue passieren lassen und festgestellt: Ja, wir haben zwar die Geschichte der USA seit der Gründung betrachtet, aber der Chinese Exclusion Act wurde nicht erwähnt. Und dass, obwohl die chinesische (und asiatische) Bevölkerung so einen großen Anteil der amerikanischen Bevölkerung ausmacht. Am Beispiel des fiktiven Lebens von Daiyu gibt Fünf Leben dieser Geschichte eine Stimme zurück, verschafft ihr Gehör und die Aufmerksamkeit, die sie verdient. Ich lege euch dieses Buch wirklich ans Herz!




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Daten zum Buch
Titel: Fünf Leben
Autor*in: Jenny Tinghui Zhang
Sprache: Deutsch
Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Jakobeit
Verlag: ECCO
Hardcover | 448 Seiten | ISBN: 978-3-7530-0057-2

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