Rezension zu »Die Summe des Ganzen« von Steven Uhly

»[W]ie sinnlos die Beichte ist, wenn man sie benutzt, wie man den Müll rausbringt, damit der Eimer wieder leer ist und neu gefüllt werden kann.« 

Der Beichtstuhl in der Kirche des Heiligen Isidro in Hortaleza, einem nordöstlichen Außenbezirk von Madrid an einem Mittwoch Anfang März um 17 Uhr. Der 50-jährige Padre Roque de Guzmán wartet auf die beichtwilligen Sünder*innen seiner Gemeinde. Eigentlich kommen sowieso immer dieselben Sünder*innen mit ihren wiederkehrenden Sünden von Ehebruch, häuslicher Gewalt und der Last ihrer Vergangenheit und Gegenwart. Um 18:10 Uhr denkt er, dass heute niemand mehr kommt und freut sich, denn um 18:30 Uhr leitet er den Knabenchor und wäre nicht böse darüber, eine Pause zwischen Beichte und Chor zu haben. Doch dann kommt doch noch jemand. Ein ihm unbekannter Mann. Anhand von Statur und Stimme im Beichtfenster schließt der Padre auf einen spanischen Mann zwischen 30 und 40. Genervt schaut der Padre auf seine Uhr, denn er fürchtet, dass sich die Beichte in die Länge ziehen und so seinen Chor gefährden könnte. Er weiß, es ist falsch den Sünder heimzuschicken, falls dieser nicht pünktlich mit seiner Beichte fertig wird, will es aber trotzdem. Doch der Sünder macht ihm die Entscheidung leicht, als er es nicht über sich bringt zu sagen, was seine Sünde ist und flieht. Am nächsten Tag kommt er wieder zur Beichte, flieht wieder als er es über sich bringt seinen 10-jährigen Nachhilfeschüler zu erwähnen sowie die »unnatürlichen Neigungen«, die er verspürt. Der Sünder kommt von nun an regelmäßig, gibt immer mehr über sich und seine fehlgeleiteten Begehren Preis, ohne tatsächlich zu beichten, denn zur Beichte fehle noch der tatsächliche Akt der Sünde. Der Padre ist genervt davon, dass der Sünder nicht nur Sache kommt, er will doch einfach nur wissen, um welche Sünde es sich handelt, damit er eine angebrachte Menge an Gebeten auftragen und die Absolution erteilen kann. Der Padre ist also auch nur ein Mensch, mal ungeduldig und genervt, der sich daran erinnern muss, barmherzig und geduldig zu sein. Der Padre ist auch nur ein Mensch, der sich auf den Knabenchor und besonders den »engelsgleichen« Armando freut. Und so rutscht der Padre mit jeder Nicht-Beichte des Sünders tiefer ab in seine Sünden, die er seit Jahren versucht reinzuwaschen und doch an ihr hängen bleibt. 

Ein Großteil des Buchs spielt sich im Beichtstuhl zwischen dem Padre und dem Sünder ab, jedoch erlangt man auch Einblicke in das Leben der beiden, denn man begleitet sie auf ihrem Weg zur Beichte, auf ihrem Heimweg. Taucht ein in die Gedankenwelt der beiden. In ihre Abgründe. Das Loch, in das beide fallen, weil ihre Gespräche sie näher an den Abgrund treiben. Weil zumindest der Sünder weiß, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis er der Versuchung erliegen und der Sünde nachgeben wird. Die Versuchung, die für ihn in Gestalt eines 10-jährigen Jungen kommt. Er weiß es ist falsch, aber er will es trotzdem. Er weiß, er zerstört das Leben des Jungen, aber er kann sich nicht helfen. Oder ist doch nicht alles so, wie es scheint?

Die Summe des Ganzen ist ein kurzes, aber intensives Buch über ein furchtbares Thema, Pädophilie. Ironisch, dass ein pädophiler Mann kurz vor seiner Tat in den Beichtstuhl eben jener Institution geht, die seit Jahren in Missbrauchsskandalen ertrinkt. Furchtbar, dass dem Padre dies kalt lässt, er nur endlich alles hören will, damit er endlich die Absolution erteilen kann. Widerlich, dass die Ausführungen des Sünders den Padre selbst hinabreißen. Anhand dieses furchtbaren, aber relevanten Themas beschäftigt sich das Buch mit den Narben, die körperlicher, sexueller und seelischer Missbrauch in einem Menschen hinterlassen. Wie diese Narben ein gezeichnetes Leben formen, das nur immer weitere Formen von Schmerz hervorruft, niemals vergessen werden kann. Darüber hinaus thematisiert das Buch aber auch anhand der sonstigen Sünden, die im Beichtstuhl gelassen werden, Fragen nach Schuld und Sühne, der Ungerechtigkeit in der Gesellschaft. Es hinterfragt kritisch die Stellung und Relevanz der Institution Kirche und lässt sie dabei alles andere als glimpflich davon kommen. Kein leichtes Buch für zwischendurch (obwohl es sich leicht und flüssig lesen lässt), aber ein Buch mit einer wichtigen, wenn auch unangenehmen Message.




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Daten zum Buch
Titel: Die Summe des Ganzen (Altersempfehlung ab 16)
Autor*in: Steven Uhly
Sprache: Deutsch
Verlag: Secession
Hardcover | 160 Seiten | ISBN: 978-3-96639-048-4

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