Rezension zu »Der Erinnerungsfälscher« von Abbas Khider

»Als Said wegging, war das Land ein Loch der Verzweiflung; zwei Jahrzehnte später ist es zu einem Loch der Hoffnungslosigkeit geworden.«

Said Al-Wahid ist in Badgag geboren. Inzwischen ist er verheiratet und lebt mit seiner Frau und seinem Kind in Berlin. Als er sich auf dem Rückweg von Mainz nach Berlin befindet, erreicht ihn der Anruf seines Bruders: Seine Mutter liegt im Sterben, Said soll so schnell wie möglich in den Irak kommen. Den Reisepass immer bei sich, bucht Said den nächsten Flug. Das Buch begleitet Said auf seinem Weg vom Bahnhof bis in den Irak, währenddessen er sich an seine Vergangenheit erinnert. Je näher er dem Irak kommt, desto weiter reist Said in seiner Vergangenheit zurück. Ihm fällt auf, dass er sich an wenig aus seiner Kindheit erinnert, er sowieso viele Erinnerungslücken hat, nicht weiß, was wirklich passiert und was erfunden ist. Also füllt er die Lücken auf, versucht einen Sinn in seiner Vergangenheit zu finden. Während seiner Rückblicke zeichnet Said ein wirkungsvolles und furchtbares Bild vom Leben im Irak, seiner Flucht und seinen Strapazen in ein neues, hoffentlich besseres Leben. 

Ich gebe zu, Der Erinnerungsfälscher ist ein Buch, zu dem ich auf der Suche nach einem unterhaltsamen, spannenden Buch fürs Wochenende wahrscheinlich nicht gegriffen hätte. Umso mehr bin ich froh darüber, dass ich es auf der Arbeit aus dem Stapel der Leseexemplare herausgegriffen habe – denn es ist ein Buch, das man definitiv lesen sollte! Als privilegierter Mensch sind Krieg, ein Leben als Flüchtling und Einwanderungsprobleme Katastrophen, um die man weiß, die einen traurig und wütend machen, die aber doch nur weitere von vielen Katastrophen sind, mit denen man täglich in den Nachrichten konfrontiert wird. Eine gewisse Distanz bleibt. Dieses Buch bricht diese Distanz auf; ich war gleichzeitig gefesselt und schockiert, musste weiterlesen, mich hineinziehen lassen in den Schmerz. Saids Erlebnisse aus seiner eigenen Sicht derart nüchtern und distanziert beschrieben zu lesen, hat etwas in mir ausgelöst. Wut, Trauer, Fassungslosigkeit, noch mehr Wut. Auf die Welt, vor allem auf die Menschen in ihr, unsere Bürokratie. Ich kann mir nicht vorstellen wie es ist, jeden Tag aufzuwachen und sich nicht sicher zu fühlen. Selbst nach Jahren in einem Land und mit der Staatsbürgerschaft Angst zu haben, doch wieder verschwinden zu müssen. Mir ein Leben und eine Familie in einem neuen Land aufzubauen, hin und her gerissen zu sein, weil ich woanders auf der Welt dafür ein anderes Leben, eine frühere Familie zurücklassen musste. Ein Teil von zwei Welten zu sein und am Ende doch in jeder von ihnen als ein Fremder wahrgenommen zu werden. Mich aus der Hölle eines vom Krieg gebeutelten Landes herauszukämpfen, nur damit am Ende eine andere Form der Hölle in Form von Bürokratie, Unsicherheit, Alltagsrassismus auf mich wartet. 

Geplagt von Traumata verdrängt Said seine Vergangenheit, füllt die Lücken so aus, dass sie Sinn ergeben, verdrängt den Schmerz und die Erinnerungen, tauscht sie aus, verändert sie, am Ende bleibt trotzdem nur der Schmerz. Vielleicht ist das Buch Saids Geschichte, vielleicht sind Teile davon wahr, vielleicht alles, vielleicht nichts. Welchen Unterschied macht es? Manchmal ist es besser, sich falsch zu erinnern, als die Wahrheit zuzulassen. Dieses Buch hat mich wirklich umgehauen, ist in seiner Kürze derart gewaltig, dass es gar nicht mehr Seiten braucht. Die Geschichte eines einziges Lebens, das stellvertretend für so viele steht. 




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Daten zum Buch
Titel: Der Erinnerungsfälscher
Autor*in: Abbas Khider
Sprache: Deutsch
Verlag: Hanser
Hardcover | 128 Seiten | ISBN: 978-3-446-27274-3

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